Erleuchtungsausbrennen

Bleibt die Erleuchtung, wenn man sie gefunden hat? Eine Kurzgeschichte von unserer Berliner Gastautorin Jacqueline.

Sonja reißt die graue Wolldecke vom Sofa und stopft sie zusammen mit einem Paar dicker Socken und ihrer roten Thermoskanne in den Rucksack. Eiligen Schrittes läuft sie zurück ins Schlafzimmer und zieht die Yogamatte unter dem Bett hervor, stößt sich den Kopf und flucht. Ein kurzer Blick auf den Wecker verrät, dass sie mal wieder zu spät kommen würde. 

Sphärische Klänge ertönen aus den Untiefen ihres Rucksacks. Sonja kramt hektisch, fischt schließlich ihr Handy heraus. Im Display leuchtet Anruf von Mama auf. Sie schmeißt das Telefon zurück in den Sack und reißt die Wohnungstür auf, verharrt. „Thorsten, Scheiße, bloß nicht!“ Sie schiebt sich rücklings zurück in die Wohnung und drückt die Tür, so leise wie irgendwie möglich, ins Schloss. Der Geruch von Chai Tee wabert durch ihre 40 qm.

Unfähig einer weiteren Bewegung verharrt Sonja im schmalen Flur, das linke Ohr gegen die Tür gepresst, die rechte Hand auf der abgegriffenen Türklinke. Fetzen von Thorstens und Annabells Gespräch dringen zu ihr heran. „OBI. Handkreissäge. Schnäppchen.“ Sonja beißt sich auf die Unterlippe. Ihre rechte Fußspitze wippt nervös auf dem stumpfen Parkettboden. „Verdammte Scheiße!“ 

Vorwurfsvoll schaut sie der steinerne Buddha von der Kommode gegenüber an. 

„Sorry!“, flüstert sie in seine Richtung. 

Vor ihren Augen erscheint das Lädchen in einer der geschäftigen Straßen Ubuds, in dem sie ihn vor zwei Jahren gekauft hatte. Es war vollgestopft gewesen mit diversen Buddhaköpfen und -figuren von Handtaschen- bis Vorgartengröße, stehend, liegend und natürlich im Lotussitz. Das Abbild Siddharta Gautamas in Stein gemeißelt oder aus Teakholz geschnitzt, blickte sie beim damaligen Betreten hundertfach an. Eingelullt vom Duft der Räucherstäbchen hatte sie sich für die Handgepäcksversion entschieden.

Jose Luis Sanchez via Unsplash

Behutsam öffnet Sonja ein weiteres Mal die Tür, steckt ihren Kopf in den Hausflur und lauscht. Als sie weder Stimmen noch Schritte hört, schultert sie Rucksack und Yogamatte. Mit einem leisen Klick schließt sich die Tür hinter ihr. Sonja eilt die dreizehn Stufen hinunter, vorbei an den Wohnungen der Steffens und Lindeckers. Es riecht nach Spinat, Eiern und Hähnchen. Hinter den verschlossenen Türen ertönt der Anfangsgong der Tagesschau. 

     Sie brauche mehr Yin, hatte ihre Heilpraktikerin gesagt. Aber wie sollte sie die Erleuchtung finden, wenn alle Mamas und Thorstens dieser Welt sie schon davon abhielten, pünktlich bei der Meditationsgruppe anzukommen? Vier Wochen Yogalehrer-Ausbildung auf Bali. Sechs Wochen im indischen Ashram, und noch immer scheint sie meilenweit von der Erleuchtung entfernt.

     Unten angekommen, öffnet sie die schwere Haustür, die gleich darauf mit einem „Rums“ ins Schloss fällt und Sonja mit voller Wucht ins Geschehen befördert. Autos hupen, Reifen quietschen. Ein Radfahrer kann gerade noch dem Motorrad ausweichen, das mit gefühlt hundert Sachen hinter einem der bremsenden Autos hervorschießt. Sonja springt zur Seite.

     „Om“. Daumen und Zeigefinger berühren einander. Stille durchfließt ihren Körper. Vor ihrem inneren Auge leuchten die bunten Farben Keralas auf. Wie der Fluss sollte ihr Leben sein, hatte sie sich im vergangenen Jahr geschworen. Sie wollte sich treiben lassen, Momente der Stille genießen. Schweißgebadet steht sie nun an der sechsspurigen Straße und hält Ausschau nach ihrem Fahrrad. 

Über die Autorin:

Jacqueline arbeitete mehrere Jahre als freie Journalistin und Redakteurin, bevor sie ihre Tätigkeit zunehmend in den Schuldienst verlagerte, um junge Schreibtalente zufördern und Lehrkräfte aus- und fortzubilden. Von ihr erschienen bisher verschiedeneMusik- und Literaturrezensionen sowie fachwissenschaftliche Artikel und Blogbeiträge.

Sie nahm erfolgreich an einem Kurzgeschichtenwettbewerb in den
USA sowie an Hamburger Lesebühnen teil. Nach einer zweijährigen Reise mit Mann und Baby durch Europa, Australien, Neuseeland und Bali (happyontheroad.guru), zog es sie im vergangenen Jahr nach Berlin, wo sie nun ihrer Passion fürs Schreiben folgt.

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